Chronik der Hochwasserkatastrophe

Die Jahrhundertflut 2002

Es war eine der größten Flutkatastrophen aller Zeiten, die Deutschland, Tschechien und Österreich im August 2002 erlebten. Sogar vor der historischen sächsischen Landeshauptstadt Dresden machte das Hochwasser kein Halt. 180.000 Helfer waren deutschlandweit im Einsatz gegen die Flut.

Die Chronik der Hochwasserkatastrophe

Am Donnerstag, 8. August. fällt im Tal des Flüsschens Kamp in Niederösterreich ein Drittel der normalen Jahresniederschlagsmenge. Die Wassermassen spülen bis Krems und Tüll Brücken und Straßen weg. 11.000 Menschen müssen in Notquartieren untergebracht werden. In Oberösterreich ist der Bereich nördlich von Linz betroffen.

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Im Kamptal bricht am nächsten Tag die Infrastruktur völlig zusammen. 5.000 Feuerwehrleute sind in Österreich im Einsatz. Das Tiefdruckgebiet “Ilse”, das Fünfte und Schlimmste in diesem Sommer, sorgt für weitere ergiebige Niederschläge in Österreich, Tschechien sowie in den deutschen Freistaaten Bayern und Sachsen.

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Das Wochenende – 10. und 11. August: In Salzburg fallen 150 Liter Regen pro Quadratmeter. Die Donau und ihre Zuflüsse steigen bedrohlich an. Eine ähnliche Situation herrscht auch in Bayern. Die Traun verzehntfacht ihren Pegelstand. Bei Miesenbach bricht der erste Deich. Das Dörfchen wird überflutet. Viele weitere folgen. Sechs Landkreise in Bayern – Garmisch-Partenkirchen, Rosenheim, Ebersberg, das Berchtesgadener Land, Traunstein sowie Passau – lösen Katastrophenalarm aus. Betroffen sind auch die Landkreise Freising, Unter- und Oberallgäu. 

Feuerwehrmänner sterben im Einsatz

Am 12. August treten im Erzgebirge die ersten Bäche über ihre Ufer. In Glashütte (SN) bricht der Damm eines Rückhaltebeckens. Das Uhrenstädtchen versinkt im Schlamm. Wenig später erreicht die Geröllwelle der Müglitz Weesenstein. Mehrere Gebäude im Ortszentrum stürzen ein. Eingeschlossene müssen mit Hubschraubern aus der Luft gerettet werden. Ein Feuerwehrmann aus Pirna stirbt beim Hochwassereinsatz. Auf Passau (BY) rollt eine Flutwelle zu. In Teilen Tschechiens wird der Notstand ausgerufen. Prag wird teilweise überflutet. 

Das Hochwasser nimmt einen Tag später historische Ausmaße an. Die Zahl der Todesopfer in Europa steigt auf 80. Als eine Rentnerin in Freital in einen Hubschrauber gezogen wird, rutscht die Frau aus dem Seil und stürzt in die Weißeritz. Sie stirbt wenig später im Krankenhaus. In Oberösterreich ertrinkt ein Feuerwehrmann. In Sachsen sind mittlerweile mehrere Orte von der Außenwelt abgeschnitten. Hunderte Helfer stemmen sich in Passau gegen das schlimmste Hochwasser seit 48 Jahren.

Grafik Reinhard Jung / Feuerwehr-Magazin, 2002

14. August: Regensburg (BY) wird von einer Flutwelle erfasst. Zehntausende Menschen kämpfen in Dresden gegen die Überschwemmungen. Bei Decin (SN) haben sich Schiffe losgerissen. Wegen der Gefahr für Brücken versenkt die Luftwaffe die Kähne. In Sachsen-Anhalt überschwemmt die Mulde im Kreis Bitterfeld mehrere Orte. Aus ganz Deutschland machen sich Helfer auf den Weg in die Katastrophengebiete. Schlechte Nachrichten aus Prag: Der Zoo steht vollständig unter Wasser.

Große Sorge um Dresdens historische Innenstadt

Am Donnerstag, 15. August, wird Dresden von einer zweiten Hochwasser-Welle überflutet. Dort und in Pirna werden Wohnhäuser geräumt und Museen gesichert. Bei Bitterfeld bricht ein Damm der Mulde. Das Tagebau-Restloch Goitzsche läuft voll. In Dessau (ST) steigt die Mulde auf die Rekordmarke von 6,23 Meter. Mühlberg (BB) an der Elbe wird weitestgehend geräumt.

Tags darauf überschreitet die Elbe in Dresden den historischen Höchststand von 8,77 Metern aus dem Jahr 1845 – normal sind rund zwei Meter. Nach und nach verlieren die Helfer an vielen historischen Gebäuden – dem Zwinger, der Semper-Oper und der Villa Marie – den Kampf gegen das Hochwasser. Viele Feuerwehr-Bereitschaften unterstützen die Helfer in der sächsischen Metropole. So auch die Feuerwehr Potsdam (Bild links). An diesem Tag wird auch Bitterfeld weitestgehend evakuiert.

9,40 Meter erreicht die Elbe in Dresden am 17. August. Dann beginnt sie zu sinken. In Bitterfeld dringt das Wasser in die Innenstadt ein. Die Sandsackdämme am Chemiepark halten. n Bayern wird der letzte noch bestehende Katastrophenalarm in Passau aufgehoben. Eine nie dagewesene Spendenflut läuft an. Sogar in Afrika wird für die Hochwasser-Opfer gesammelt.

Erfolge am 18. August: In Torgau (SN) und Mühlberg können Tausende Helfer die Deiche halten. Im Kreis Wittenberg (ST) strömt die Flut hingegen nach einem Dammbruch auf mehrere Orte zu. Ein Deich bricht in Dessau an der Mulde. 100.000 Menschen in den neuen Bundesländern schlafen in dieser Nacht nicht zuhause. 

Zu Beginn der neuen Woche erreicht die Flutwelle Norddeutschland, die Pegel steigen schneller als erwartet. In Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen und Schleswig-Holstein werden Schutzdeiche mit mehr als einer Million Sandsäcke verstärkt. Am Mittellauf der Elbe bleibt die Lage kritisch: Allein im Kreis Wittenberg meldet der Krisenstab sieben Dammbrüche.

20. August: Der Scheitel des Hochwassers verlagert sich ins nördliche Sachsen-Anhalt und Brandenburg. Im kreis Prignitz (BB) wird Katastrophenalarm ausgelöst. Bei Magdeburg bricht der Deich am Elbe-Umflutkanal. Das Wasser strömt in mehrere Dörfer. Gut für die Landeshauptstadt die Elbe steigt “nur” auf 6,70 Meter. Die Deiche halten. In Sachsen beginnt derweil das große Aufräumen. Hier hat das Hochwasser einen Schaden von rund 15 Milliarden Euro angerichtet. 

Tausende Helfer arbeiten rund um den 22. August in Norddeutschland fast rund um die Uhr, stemmen sich gegen die Katastrophe. Brennpunkte sind die Prignitz und Elbaschnitte in Niedersachsen. Die Wassermassen setzen den aufgeweichten Deichen heftig zu. Mehrere Orte werden evakuiert. Auch rund 40.000 Soldaten der Bundeswehr sind im Hilfseinsatz. Noch immer müssen mehr als 45.000 Menschen in Notunterkünften ausharren. Durch einen gebrochenen Deich strömendes Wasser bedroht erneut Dessau.

Hochwassereinsatz im Herzogtum Lauenburg (SH). Foto: Timo Jann

Am Sonntag, 25. August, zieht sich die Jahrhundertflut allmählich zurück. Allerdings drohen einige Deiche in Brandenburg unter dem tonnenschweren Druck der Sandsackerhöhungen und -verstärkungen abzurutschen. In Mecklenburg-Vorpommern und Niedersachsen geht der Kampf gegen die Flut also weiter. Montag sinken dann die Pegelstände an der Elbe konstant, das Hochwasser geht deutlich zurück. 

Zum Ende der Woche ist der Katastrophenalarm fast überall aufgehoben. “Wir haben es geschafft”, heißt es aus dem Katastrophenstab im schleswig-holsteinischen Lauenburg, einer der letzten Stationen der Flutwelle. 

Allein in Deutschland starben 21 Menschen bei dem Hochwasser. 128.000 Helfer von Feuerwehr, Bundeswehr, THW und den Hilfsorganisationen waren im Einsatz.

Text: Jan-Erik Hegemann

 

Der Kampf gegen das Hochwasser

Historischer Einsatzbericht Feuerwehr-Magazin

Prießnitz, Müglitz und Weißeritz. Harmlose Bäche und Flüsschen. Bis zum 12. August. Dann verwandeln sich die sächsischen Rinnsale innerhalb von Stunden in Wasserwalzen. Häuser, Brücken, Straßen und Bäume werden mitgerissen. Auch die Elbe und die Mulde treten über die Ufer. Ganze Landstriche versinken im Hochwasser. Über 100.000 Helfer kämpfen gegen die Fluten.
Vielerorts vergeblich.

“Ilse” ist schuld. Sagen zumindest die Meteorologen. Das Tiefdruckgebiet hat sich über dem Golf von Genua mit warmer, feuchter Mittelmeerluft vollgesaugt. Dann driftet “Ilse” nordwärts. “Über dem Erzgebirge entlädt sich die riesige Wasserbombe”, wie Donald Bäcker von der Wetterstation Oderwitz (SN) das Phänomen bezeichnet. Eine ähnliche Wetterlage hatte 1997 zur verheerenden Oderflut geführt.

Diesmal kommt es noch schlimmer, viel schlimmer. Allein am 12. August fallen in Leipzig innerhalb von zwei Stunden 60 Liter Regen. Das Problem: Die Böden sind bereits gesättigt, können kein Wasser mehr aufnehmen. Der Sommer 2002 gehört zu den niederschlagsreichsten seit Aufzeichnung der Wetterdaten. Binnen einer Stunde laufen Unterführungen und Tiefgaragen in der größten sächsischen Stadt voll. Das Leipziger Brandschutzamt ruft den Ausnahmezustand aus.

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60 Liter pro Quadratmeter. Gegenüber Zinnwald-Georgenfeld an der Grenze zu Tschechien eine nahezu lächerliche Menge. Am 12. August gehen hier 312 Liter Regen pro Quadratmeter nieder. In normalen Jahren sind es im gesamten August lediglich so um die 100 Liter. Kreis-, Land- und Bundesstraßen werden überflutet. Die ersten Orte sind von der Außenwelt abgeschnitten.

Fluten reißen Gebäude mit

Ein erster Krisenstab tritt am Nachmittag des 12. August in Sachsen zusammen. Die Hiobsbotschaften häufen sich: Auf dem Marktplatz von Schmiedeberg steht das Wasser einen halben Meter hoch. Bad Schandau ist völlig abgesoffen. Oberhalb von Glashütte bricht die Mauer eines Staudammes. Wohnhäuser werden unterspült und stürzen ein.

Dramatisch ist die Situation in Weesenstein. “Seit dem 12. August gibt es den alten Ortskern nicht mehr”, sagt Pfarrer Berthold. Die sonst so friedliche Müglitz hat acht Gebäude mitgerissen. Ohne Vorwarnung trat der Fluss über die Ufer. “Wir hörten ein Rauschen und konnten uns gerade noch selbst retten”, beschreiben Rainer und Ingrid Sobczinsky.

Die Wassermassen entwickeln unvorstellbare Kräfte. In Pirna-Zuschendorf ertrinkt ein 35-jähriger Feuerwehrmann. Er hat versucht, Flutopfer zu retten. Dabei ist er selbst von einem mitgeschwemmten Pkw unter Wasser gedrückt worden.

Auch die Mulde tritt über die Ufer. Westlich von Dresden sind Döbeln und Grimma überflutet. In Grimma müssen die Hilfskräfte mit Booten am 13. August 50 Personen aus der Frauenkirche retten. Die unfreiwilligen Kirchgänger sind vor den plötzlich hereinbrechenden Fluten in das Gotteshaus geflohen.

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Viele Flutopfer können sich gerade noch auf die Dächer ihrer Häuser retten. Einige Eingeschlossene müssen Bundeswehr und Bundesgrenzschutz mit Hubschraubern aus der Luft retten. Dabei rutscht eine Frau aus der Schlinge und stürzt zwölf Meter tief zurück ins Wasser. Sie stirbt wenig später an den Folgen des Sturzes.

Am 13. August erreichen die Wassermassen Dresden. Und treffen die Bevölkerung gänzlich unvorbereitet. Die vorherigen Warnmeldungen wurden ignoriert. “Hochwasser haben wir doch einmal im Jahr”, hieß es. Dafür gibt es breite Flutungswiesen. Doch die reichen diesmal nicht.

Tausende Freiwillige, Feuerwehrleute, Soldaten und THWler versuchen, die Wahrzeichen der Stadt vor dem Hochwasser zu schützen. Sandsack auf Sandsack wird um die Semperoper gestapelt. THW und Feuerwehr pumpen eindringendes Wasser umgehend wieder hinaus.

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Für den mehrtägigen Einsatz sollten die Kameraden kompakte Sporttasche mitnehmen, die gut versteht werden können. Foto: Klöpper

Aus ganz Deutschland rücken Feuerwehren an. Rund um das Stadtschloss und am Zwinger kommen beispielsweise Kräfte aus Hamburg zum Einsatz, die Synagoge schützen Feuerwehrleute aus Nürnberg. Die Helfer schuften bis zum Umfallen. Doch das Wasser ist mächtiger. Ein historisches Gebäude nach dem anderen muss aufgegeben werden.

Meistens gelingt es aber zumindest, die wertvollsten Kunstschätze aus den tiefgelegenen Stockwerken in höhere Geschosse zu tragen. So können im “Albertinum” 15.000 Gipsköpfe gerettet werden. Auch die Galerie “Alte Meister” im Zwinger kann noch rechtzeitig geräumt werden. Dies geschieht nach dem Ausfall des Stroms teilweise im Licht von Taschenlampen.

Hochwasser-Babys wohlauf

Ganze Stadtteile werden evakuiert. Mehrere Krankenhäuser müssen geräumt werden. Die Patienten werden bis nach Berlin, Cottbus und Bischofswerda verlegt. Hierzu setzt die Bundeswehr auch ihr “fliegendes Krankenhaus”, einen speziell ausgerüsteten Airbus A310, ein.

Einzig im St.-Joseph-Stift kann die gynäkologische Abteilung den Betrieb aufrecht erhalten – gegen den Willen des städtischen Krisenstabes. Und nur dank des unermüdlichen Einsatzes der Feuerwehr. In einer Tour pumpen die Feuerwehrleute eindringendes Wasser aus den Kellern. 23 Babys erblicken hier während der Überflutung das Licht der Welt. Jeden neuen Erdenbürger zeigen die Schwestern auf dem Balkon. Jedes Mal bricht lauter Jubel bei den Helfern aus. “Da weiß man wenigstens, wofür wir hier schuften”, freut sich ein Feuerwehrmann.

Es kommt noch schlimmer. Am Donnerstag, den 15. August erreicht eine zweite Hochwasserwelle Dresden. Bis auf 9,40 Meter (erreicht am 17.8.) steigt der Pegelstand der Elbe. Zum Vergleich: Bei der Sächsischen Sintflut von 1845 waren es nur 8,77 Meter gewesen. So ein Hochwasser wie jetzt soll es nach Auskunft der Meteorologen nur alle 5000 Jahre geben. Kein wirklicher Trost für die Betroffenen.

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Entlang der Elbe und Mulde laufen die Vorbereitungen auf Hochtouren. Elbnahe Wohngebiete werden evakuiert. Vielfach gegen den Willen der Betroffenen. Allein im Landkreis Wittenberg müssen sich 40.000 Menschen vorübergehend eine neue Bleibe suchen. Wer nicht bei Freunden und Bekannten unterkommen kann, wird in Sammelunterkünften (Schulen, Turn¬hallen) untergebracht. In Pirna errichten Soldaten des Panzerbattaillons 393 auf einem abgemähten Getreidefeld ein Auffanglager für 2.000 Personen.

Überall werden die Deiche erhöht und verstärkt. Die Bundeswehr schickt zur Unterstützung Tausende Soldaten. Taucher bringen Folien auf den Deichen aus. Diese werden mit Sandsäcken befestigt. So soll ein Aufweichen verhindert werden.

Stromabwärts erreicht die Flut Mühlberg und Torgau. Beide Städte haben keine Chance. Die Vorbereitungszeit reichte einfach nicht aus. Am Sonntag, den 18. August gibt in Torgau ein Deich nach.

Die Schlacht um Bitterfeld

Dramatisch ist die Situation auch in Bitterfeld an der Mulde. Der gleichnamige Chemiepark ist hoch gefährdet. Umweltexperten rechnen mit dem Schlimmsten. Durch Jahrzehnte lange chemische Produktion gilt der Boden als hochgradig verseucht. Der Silbersee gilt als die größte Kloake der Nation. Hochdrückendes Grundwasser könnte Giftstoffe aus dem Boden spülen. Dies versuchen die Helfer mit allen Mitteln zu verhindern.

An zwei Stellen wird – man kann es nicht anders ausdrücken – die Schlacht um Bitterfeld entschieden. An einem Damm der Leine, der den Nordosten vom Südwesten der Stadt trennt. Und am Seedammweg, am Ostufer des Goitzsche-Stausees. Hier ist der Damm auf einem halben Kilometer Länge gebrochen. 500 Kubikmeter Wasser schießen pro Sekunde aus der Mulde. Mit Betonschwellen, Eisenträgern, Schutt und Steinen soll das Loch wieder geschlossen werden.

“Man wacht morgens auf und ist pleite”

Unterdessen beginnen in Grimma die Aufräumarbeiten. Die Flut ist hier besonders schnell gekommen und schnell wieder verschwunden. Zurück bleibt eine Trümmerlandschaft. “Zehn Jahre Aufbauarbeit innerhalb von 24 Stunden zerstört”, sagt Ines Schulze. Nach der Wende hatte die ehemalige Leiterin eines Konsum-Ladens ein kleines Blumengeschäft eröffnet.

Besonders ärgert sich die Unternehmerin über die mangelhafte Vorwarnung. Per Lautsprecherdurchsagen sei am Montag (12.8.) das Hochwasser angekündigt worden. Wenig später wurden die Bewohner dann zum Verlassen der Häuser aufgefordert. “In der verbleibenden Zeit haben wir so viel wie möglich aus dem Laden in die darüber liegende Wohnung geschafft”, so Peter Schulz. Vergeblich, denn auch die Wohnung wurde überflutet. “Man wacht morgens auf und ist pleite”, bringt es Heike Seidel, Inhaberin von Schuh-Seidel, auf den Punkt.

Überall türmen sich an den Straßenrändern riesige Müllberge. Doch die Aufräumarbeiten gehen dank der helfenden Hände zügig voran. Müssen sie auch, denn sonst drohen Seuchen und eine Ungezieferplage. “Die Ratten sind schon da”, sagt Reiner Schirmer, der Sprecher der Stadt Flöha im Erzgebirge.

Vielerorts wird die Informationspolitik der Landesregierungen und der Landkreisverwaltungen beklagt. Viele Feuerwehren sind kaum oder gar nicht über das Ausmaß der Flut unterrichtet worden. Ein Beispiel: Selbitz bei Wittenberg (ST). Das Dorf liegt zwölf Kilometer von der Elbe entfernt. Weil allerdings bei Wittenberg ein Deich bricht, wird Selbitz komplett überflutet. Die Feuerwehr erfährt wie alle anderen Einwohner davon, als das Wasser die Dorfstraße hinunter läuft. Die Selbitzer sind sich sicher: “Wir sind für den `Wörlitzer Park´ bei Dessau geopfert worden.” Der berühmte Park wurde gerade erst vor einem Jahr ins Unesco Weltkulturerbe aufgenommen.

Geographisch gehört Dessau zu den gefährdetsten Gebieten in der gesamten Hochwasserregion. Hier mündet die Mulde in die Elbe. Am 18. August bricht abends ein Deich bei Dessau-Waldersee. Zuvor haben die Helfer noch versucht, einen vier Kilometer langen und 1,80 Meter hohen Schutzwall um den Stadtteil aufzuschichten. Vergeblich. Alle Gebäude in dem 2.800-Einwohner-Ort werden überflutet.

Verseuchtes Hochwasser

Viele Ölfässer treiben auf dem Wasser. Widerlicher Gestank liegt in der Luft. Kaum zu glauben, dass nicht einmal vier Wochen zuvor in Dresden Tausende den “Ersten Internationalen Elbe-Badetag” gefeiert haben. Am 14. Juli bescheinigten die Behörden der Elbe noch Badewasser-Qualität.

Bis dieser Stand wieder erreicht ist, dürften wieder Jahre vergehen. Schon aus Tschechien bringen die Fluten unzählige Chemikalien mit. Das Chemiewerk Spolana steht unter Wasser. Das Werksgelände ist mit Quecksilber und Dioxin verseucht. Tierkadaver, Fäkalien und Heizöl aus aufgeschwemmten Tanks kommen hinzu.

Gefragt sind jetzt vor allem die Chemieschutzexperten der Feuerwehr. Die Umweltfeuerwehr des Landkreises Northeim (NI) kommt beispielsweise im Dessauer Stadtteil Waldersee zum Einsatz. Mit Hilfe der Bundeswehr und des THW können die Northeimer ca. 24.000 Liter Öl abpumpen oder abskimmen. Dabei wird ein ganz neues Konzept erprobt. Weil mit dem Ölsanimat nicht ins Hochwasser gefahren werden kann, wird dieser auf die Ladefläche eines dreiachsigen THW-MAN gestellt und damit zu den Einsatzstellen gebracht.

Sehr beeindruckt waren die Helfer von der Dankbarkeit der Einheimischen. Martin Döscher schildert: “Einmal mussten wir in einem evakuierten Einfamilienhaus einen Heizöltank sichern. Die Besitzer hatten einen Brief mit der genauen Lage des Tanks für uns hingelegt. Daneben Getränke, Kaugummis und eine Flasche Wein als kleiner Dank.”

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Weniger erfreulich sind die Erfahrungen der Helfer mit der Hitze, den Schlafmöglichkeiten und den Mücken. Döscher: “Die Viecher waren eine echte Plage – und gefräßig. Einige Kameraden mussten wegen der Mückenstiche sogar in ärztliche Behandlung.” Die Northeimer haben es hinter sich. Doch den Einheimischen in den Überschwemmungsgebieten droht eine gewaltige Mückenplage. “In den zurückbleibenden Pfützen und Wasserlöchern können sich die Eier der Insekten optimal entwickeln”, erklärt Andreas Krüger von Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin in Hamburg.

Demnach dürfte die Region um Wittenberg demnächst zu den mückenreichsten in Deutschland gehören. Rund um die Lutherstadt sind während der Flut sieben Deiche (zum Teil über 100 Jahre alt) gebrochen. Der Landstrich gleicht zeitweise einer Seen-Landschaft. So bitter es ist, aber jeder Deichbruch entschärft die Situation flußabwärts. Wegen des abfließenden Hochwassers erreicht die Flutwelle zum Beispiel Magdeburg in deutlich geringerem Ausmaß als erwartet.

Auf 6,72 Meter steigt der Pegel an, vier Mal so hoch wie normal. Aber die Deiche in der Stadt halten. Damit ist Magdeburg die erste Stadt an der Elbe, die mit gigantischem Aufwand gehalten werden kann. Rund eine Million Sandsäcke haben die Helfer befüllt und damit die Deiche aufgestockt und erhöht. Das östlich von Magdeburg ein Deich am Elbe-Umflutkanal bricht und Heyrothsberge überflutet wird, kann angeblich nicht verhindert werden.

Magdeburg stellt sozusagen den Wendepunkt im Kampf gegen die Fluten dar. Im weiteren Flußverlauf gelingt es Helfern immer häufiger, die Orte zu halten (z.B. Lauenburg, Geesthacht und Amt Neuhaus). Zum Teil werden Deiche vom THW gezielt gesprengt, damit die Wassermassen in unbewohntes Hinterland abfließen können. Lediglich die Altstadt von Hitzacker wird noch überflutet. Aber dies ist kein Wunder: der historische Ortskern liegt direkt an der Elbe. Schützende Deiche gibt es nicht.

Die Zerstörungen der Flutwelle in Sachsen und Sachsen-Anhalt bestimmen fast zwei Wochen die Bilder im Fernsehen. Die Zahl der eingesetzten Helfer kann nur geschätzt werden. Von über 100.000 Mitgliedern von Hilfsorganisationen, Feuerwehren, THW und Bundeswehr ist die Rede. Nach Auskunft des Deutschen Feuerwehrverbandes sollen allein 25.000 Feuerwehrleute im Einsatz gewesen sein.

Der Schaden in Sachsen wird auf rund 15 Milliarden Euro beziffert. 180 Brücken existieren nicht mehr. Ein Fünftel der Eisenbahnverbindungen in dem Bundesland wurden zerstört. 20 Menschen starben in den Fluten. Angesichts dieser Zahlen und Bilder gerät fast in Vergessenheit, dass auch Österreich, Tschechien und Bayern von schweren Überflutungen betroffen waren. Auch in Österreich kam ein Feuerwehrmann im Einsatz ums Leben.

Text: Jan-Erik Hegemann

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